Brustkrebs
Der Krebs, die Hoffnung und die Gier
Seit Angelina Jolie sich vorbeugend beide Brüste hat amputieren lassen, fürchten viele Frauen die Macht der Gene. Doch die beginnt zu bröckeln, sobald man genauer hinschaut.
Angelina Jolie 2013 in London: Als sich die Schauspielerin ihre Brüste amputieren liess, schnellte der Aktienkurs von Myriad Genetics in die Höhe. Foto: Neil Hall, Reuters
Brustkrebs ist die häufigste Krebsart in den westlichen Industrieländern. In der Schweiz erkranken jedes Jahr rund 5500 Frauen am Mammakarzinom, 1400 sterben daran. Entsprechend gross sind die Ängste, die mit Brustkrebs verbunden sind. Und entsprechend empfänglich sind Frauen dafür, ihre Brüste mit einer Mammografie untersuchen oder sich auf eine Mutation im Gen BRCA testen zu lassen. BRCA wird gern als Brustkrebsgen bezeichnet. In den USA hat sich die Zahl der Frauen, die sich aufgrund einer diagnostizierten BRCA-Mutation vorsorglich beide Brüste haben amputieren lassen, zwischen 1998 und 2007 verzehnfacht. Prominentestes Beispiel unter ihnen ist die US-Schauspielerin Angelina Jolie.
Doch bestehen berechtigte Zweifel, dass Mammografie und genetische Tests in der Weise angezeigt sind, wie sie propagiert werden. So hat das unabhängige Fachgremium Swiss Medical Board die internationale Fachliteratur zur Mammografie ausgewertet und kommt in der kürzlich im «New England Journal of Medicine» («NEJM») publizierten Studie zu einem klaren Schluss: Das systematische Mammografie-Screening muss gestoppt werden, weil der Schaden den Nutzen klar überwiegt und es zudem unverhältnismässig hohe Kosten verursacht.
Ein Screening könne zwar dazu beitragen, Tumore in einem früheren Stadium zu entdecken, sodass auf tausend Frauen, die regelmässig gescreent werden, ein bis zwei Todesfälle verhindert werden könnten. Doch gerade weil eine Mammografie auch kleinste Veränderungen entdeckt, werden diese schnell zu Unrecht als zu behandelnder Krebs interpretiert: «Pro tausend Mammografien kommt es zu rund hundert Fehlbefunden, die dann nicht nur zu entsprechend unnötigen Behandlungen wie Bestrahlungen, Chemotherapie und Operationen führen können, sondern die Betroffenen auch psychisch stark belasten», so Nikola Biller-Andorno, Koautorin der Studie. Allein die Diagnose Krebs zu erhalten, kann nachweislich das Risiko für einen Suizid wie auch für einen Tod durch Herz-Kreislauf-Zusammenbruch erhöhen.
Big Screenings
«Die Untersuchung aus der Schweiz muss man sehr, sehr ernst nehmen», sagt Frank Ulrich Montgomery, Präsident der deutschen Bundesärztekammer. Die Krebsliga Schweiz hingegen hält dem Swiss Medical Board entgegen, die Studienauswertung überzeuge weder inhaltlich noch methodisch. Auch Beat Thürlimann vom Brustkrebszentrum St. Gallen spricht von «klaren methodischen Mängeln». Unter anderem kritisiert er, das Datenmaterial der ausgewerteten Arbeiten über den Nutzen der Mammografie stamme aus den achtziger Jahren und sei deshalb zu alt.
Doch genau dieser Umstand dürfte bedeuten, dass die Auswertung des Swiss Medical Board den durch die Mammografie verursachten Schaden sogar noch merklich unterschätzt. Das hängt mit der modernen Mammografie-apparatur zusammen. «Neuere Geräte, die noch empfindlicher sind, verstärken möglicherweise das Problem der Überdiagnose massgeblich», so der Berner Präventivmediziner Peter Jüni, Mitautor der «NEJM»-Studie. Auch harmlose, langsam wachsende Brusttumore, die in vielen Fällen nie eine Bedrohung dargestellt hätten, werden als gefährlich eingestuft. Schätzungen zufolge wird mittlerweile jede dritte bis zweite Veränderung, die mit einer Mammografie entdeckt wird, fälschlicherweise als gefährlicher Krebs eingestuft – deutlich häufiger als noch in den achtziger Jahren.
Frauen sollten auf jeden Fall über die mit einer Mammografie verbundenen Risiken aufgeklärt werden – inklusive darüber, dass die Geräte potenziell krebserregende Röntgenstrahlung aussenden. Ein solches Gespräch müsse freilich, so die deutsche Gesundheitsforscherin Ingrid Mühlhauser, dem Besuch im Screeningzentrum vorausgehen und davon getrennt werden. «Zentren beziehungsweise Ärzte, die Interesse an einer hohen Teilnahme der Frauen am Screening haben, können eine unabhängige Beratung kaum leisten.»
Big Money
«Screening ist nur ein Teil der Antwort auf Brustkrebs», schreibt der US-Mediziner Russel Harris Mitte Juni im Fachblatt «Annals of Internal Medicine». Es werde Zeit, die Aufmerksamkeit weg von der Mammografie und viel stärker auf die Veränderung unseres Lebensstils zu lenken. «Übergewichtige Frauen – und vor allem Frauen, die nach ihrer Menopause zunehmen – haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass bei ihnen Brustkrebs diagnostiziert wird», so Harris, «und körperlich aktive Frauen haben eine geringere Wahrscheinlichkeit als Frauen, die sich im Alltag wenig bewegen. Wir sollten daher anfangen, Faktoren wie Gewichtskontrolle und sportliche Aktivität nicht nur mit Herz-Kreislauf-Krankheiten in Verbindung zu bringen, sondern auch mit Brustkrebs.»
Das ist nicht neu, findet aber nach wie vor wenig Beachtung. Eine mögliche Erklärung dafür sind finanzielle Interessen – immerhin werden mit Mammografien viele Millionen umgesetzt, während mit Empfehlungen, mehr Sport zu treiben oder abzunehmen, kaum Geld zu verdienen ist. «Die augenblickliche Begeisterung für Screening beruht mehr auf Angst, falschen Hoffnungen und Gier als auf wissenschaftlichen Beweisen», stellte die damalige medizinische Leiterin der kanadischen Mammografie-Screening-Studien bereits 2005 fest.
Um viel Geld geht es auch bei den genetischen Tests, mit denen sich BRCA-Mutationen feststellen lassen. In Europa kostet so ein Test zwischen 3000 und weit über 10 000 Euro – je nachdem, wie viele Genabschnitte überprüft werden. Daran verdienen Firmen wie Myriad Genetics aus den USA, die als Erste mit einem BRCA-Test auf den Markt kam. Bei Myriad Genetics liess sich übrigens auch Angelina Jolie untersuchen. Kaum hatte die US-Schauspielerin im Mai 2013 der Weltöffentlichkeit bekannt gegeben, dass sie sich aufgrund der Diagnose ihre beiden gesunden Brüste habe amputieren lassen, schnellte der Aktienkurs von Myriad Genetics in die Höhe – Tendenz weiterhin steigend.
Big Genetics
Noch immer beherrscht das Dogma, dass unsere Gene unser Schicksal bestimmen, die Krebsforschung. Sie hätte aufgrund ihrer BRCA-Mutation eine fast neunzigprozentige Wahrscheinlichkeit gehabt, im Verlauf ihres Lebens an Brustkrebs zu erkranken, verkündete Jolie. Doch es bestehen berechtigte Zweifel an der Höhe dieses Prozentwerts.
Mittlerweile ist unbestritten, dass Faktoren, die jenseits der Kontrolle unserer Gene liegen – sogenannte epigenetische Faktoren –, zu einem hohen Prozentsatz bestimmen, ob und in welchem Mass wir krank werden. Ein mutiertes BRCA-Gen löst nämlich nicht selber den Krebs aus. Vielmehr sind Brust- oder auch Eierstockzellen, deren BRCA-Gene geschädigt sind, nicht mehr in der Lage, Schäden am Erbgut zu reparieren. Dadurch kommt es zu fehlerhaften Reparaturprozessen, die auf Chromosomenebene zu Instabilitäten führen und so den Weg für Krebs ebnen können.
Doch es gibt viele andere Gene, die über ähnliche Reparaturfähigkeiten wie das BRCA-Gen verfügen. Und auch wenn die geerbte BRCA-Mutation selber nicht behoben werden kann – verschiedenen Studien zufolge kann die Genexpression anderer Gene so beeinflusst werden, dass der durch die BRCA-Mutation bestehende Defekt kompensiert wird.
«Man kann der Ausbildung von Krebs entgegenwirken», sagt der australische Genomforscher Michael Fenech. «Theoretisch kann jemand, der wie Angelina Jolie BRCA-Mutationen in sich trägt, mithilfe einer speziellen Diät und einem bestimmten Lebensstil das Brustkrebsrisiko abschwächen.» Die Fachwelt spricht von Nutrigenomik, wenn es um die Interaktion zwischen Ernährung und Genen geht.
«No big deal»?
Wer sein Brustkrebsrisiko minimieren wolle, solle möglichst wenig gegrilltes Fleisch und alkoholische Getränke konsumieren, so Fenech. Im Gegenzug rät er, all jene Lebensmittel und Ergänzungspräparate zu sich zu nehmen, die nachweislich einen positiven Einfluss auf die Reparaturfähigkeiten des Erbguts und der damit verbundenen Enzyme habe: pflanzliche Produkte mit einem hohen Anteil an Folsäure, Karotin, Niacin und den Vitaminen C, D und E. So zeigt eine 2009 im Fachmagazin «Breast Cancer Research and Treatment» publizierte Forschungsarbeit auf, dass Frauen mit einer BRCA-Mutation, die mehr Früchte und Gemüse assen, ihr Brustkrebsrisiko stärker senkten als jene, die nur wenig Früchte und Gemüse konsumierten. Eine vergleichbar positive Wirkung liess sich auch nachweisen, wenn der Körper ausreichend mit Vitamin D versorgt wurde oder wenn Faktoren, die nachweislich das Erbgut schädigen können – Röntgenstrahlen etwa oder über die Nahrung eingenommene Pestizide – vermieden wurden.
«Ich wünschte mir, Angelina Jolie hätte in ihrem Gastbeitrag für die ‹New York Times› klar gemacht, dass es für Frauen, die eine BRCA-Mutation in sich tragen, nicht nur zwei Optionen gibt – die Amputation oder die Angst, dass sie irgendwann der Krebs heimsucht –, sondern auch die proaktive Prävention mittels Ernährung und eines entsprechenden Lebensstils», so die Herausgeberin des US-amerikanischen «Natural Medicine Journal» Karolyn A. Gazella. Sie ist selbst Trägerin der BRCA-Mutation und hat bereits einen Eierstockkrebs, der mit dieser Mutation in Verbindung gebracht wird, überlebt. Dennoch hat sie sich entschieden, ihre beiden gesunden Brüste zu behalten.
Genau wie die US-Sängerin Melissa Etheridge, ebenfalls Trägerin der BRCA-Mutation, bei der 2004 sogar Brustkrebs diagnostiziert worden war. Etheridge, mittlerweile frei von Krebs, bezeichnete Jolies vorsorgliche Brustamputation nicht wie viele andere als mutig, sondern als wohl «angstvollste Entscheidung, die man treffen kann, wenn es um Krebs geht». Ob sich Krebs ausbildet, hänge entscheidend vom Milieu des Körpers ab, das etwa durch Ernährung oder das Vermeiden von Stress positiv beeinflusst werden könne. Gazella ihrerseits kritisiert Jolie insbesondere dafür, den chirurgischen Eingriff so beschrieben zu haben, als wäre er «no big deal».
«Tatsächlich aber zeigt die wissenschaftliche Literatur, dass Frauen, bei denen eine vorsorgliche Mastektomie vorgenommen wurde, mit schweren Einbussen an Lebensqualität zu kämpfen haben können», so Gazella. «Hinzu kommt, dass nicht wirklich hundert Prozent des Brustgewebes und der Zellen entfernt werden können. Und wenn sich dann bei Frauen mit Implantaten oder rekonstruierten Brüsten ein Mammakarzinom ausbildet, wird es wahrscheinlich sehr viel tödlicher sein, da der Krebs dann tief in der Brustwand steckt und nur noch schwer aufzuspüren ist.»
Torsten Engelbrecht ist Mitherausgeber des Buchs «Die Zukunft der Krebsmedizin. Klassische und ganzheitliche Therapien, Impfungen und Krebsgene: Was ist Fakt und was Fiktion?», das 2010 im Naturaviva-Verlag erschienen ist.